Emotionale Nähe

Gefühle in der Feldpost des Vaters rühren den Sohn

WETTRINGEN – Der Ort seiner Kindheit und Jugend bietet dem Coburger Schriftsteller Manfred Kern reichlich Stoff für die literarische Verarbeitung – auf der Suche nach Vertrautem und der Sehnsucht nach dem Einfachen und Ursprünglichen. Die emotionale Bindung des 57-Jährigen zur alten Heimat Wettringen zeigt sich in seinem neuen Buch „Meine Oma“, in dem auch der Grad der persönlichen Betroffenheit sichtbar wird.

Jede Familie ist besonders, ragt aus allen anderen heraus und ist die allerwichtigste Familie für die Nachkommen. Das gilt auch für die Familie Kern, die auf ihre Weise Geschichte geschrieben hat. Sie ist damit im höchsten Maße individuell, oft irrational und für andere Menschen nicht immer nachvollziehbar. Manfred Kern hat auch in früheren Werken Aspekte dieses komplizierten und vielschichtigen Geflechts von Beziehungen und Verhaltungsstrukturen mit Rollenverteilungen und ge­genseitigen Abhängigkeiten beleuchtet und dabei auch mehr über sich selbst und die augenblickliche Familie erfahren. „Es hat mich immer beschäftigt, was mit unserer Familie los ist, in der über vieles nicht geredet wurde.“

Manfred Kern in seiner alten Heimat Wettringen: „Den inneren Knoten auflösen“. Foto: Schäfer

Manfred Kern in seiner alten Heimat Wettringen: „Den inneren Knoten auflösen“. Foto: Schäfer

Umso aufschlussreicher und bewegender war für Manfred Kern der überraschende Fund der Feldpostbriefe seines Vaters aus französischer Kriegsgefangenschaft, die sich im Nachlass befanden. Anrührende Zeilen, die auf die Betroffenheit der geschundenen Seele verweisen. Schwer lastete damals das Ungewisse auf allen Gemütern. Die Briefe seines inzwischen verstorbenen Vaters hat Manfred Kern in das Buch „Meine Oma“ einfließen lassen als ein Kapitel Zeitgeschichte. Auf zweihundert Seiten erzählt er von Werten, vom Umbruch von Strukturen und dem Verlust von Traditionen. Das Buch legt Zeugnis ab von schwierigen Zeiten, familiären Konflikten und finanziellen Problemen.

Die Familie, in die man hineingeboren wird, hat großen Einfluss – meist lebenslang. „Das Buch hat mir gezeigt, wo ich herkomme, warum die Dinge so sind wie sie sind und warum sie so sein muss­ten“, sagt Manfred Kern. Er hat sein eigenes Lebenskonzept entwickelt. Nach Fachabitur, abgebrochenem Architekturstudium und Buchhändlerlehre in Würzburg übernahm Manfred Kern die Rolle des Hausmanns und verfasst seit 1985 als freier Schriftsteller literarische Werke. Schwerpunkt sind Lyrik und Prosa in Hochdeutsch und Mundart. Er ist mit einer Sozialpädagogin ver­heiratet, die aus Binzwangen stammt und mit ihrem Job den Lebensunterhalt verdient. Sie haben eine gemeinsame Tochter, die längst ihre eigenen Wege geht.

Zukunft gestalten bedeutet für Manfred Kern Verantwortung übernehmen und nicht aneinander vorbei leben. Obwohl er schon seit über 35 Jahren nicht mehr in Wettringen lebt, aber regelmäßig dort verkehrt, hat das kleine Dorf immer noch den Status Heimat für ihn. Dieses Gefühl ist tief in seinem emotionalen Gedächtnis verankert. Das ungeschönte Porträt seiner Familiengeschichte hat er mit einem weinenden und einem lachenden Auge geschrieben.

Durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit konnte er sich in die Anderen hineinversetzen und das Geschehene aus der Distanz mit gnädiger Milde betrachten. Entstanden ist ein Vermächtnis mit einem wahren Wert, den einem niemand nehmen kann: der eigenen Geschichte. Das Buch ist keine Abrechnung, sondern eine Auseinandersetzung mit Gefühlen. Da gibt es viel Wehmut darüber, dass man die Nähe nicht zurückholen kann, weil sich das, was passiert ist, eben nicht ungeschehen machen lässt. Fragen bleiben offen nach dem Tod der Angehörigen. Oma Margaretha, genannt „Marcheredd“ führte ein strenges Regiment über ihre Nachkommen und war bis zu ihrem Tod 1971 die Herrin auf dem Hof in Wettringen. Sie wurde 1884 geboren und heiratete 1913 den Bauernsohn Leonhard Kern, der 1915 zum Kriegsdienst einberufen wurde und durch „Gottes Güte“ 1918 wieder wohlbehalten heimkehren durfte.

Vier Söhne wurden dem Paar geschenkt. Dann kam der Zweite Weltkrieg und verlangte nach Soldaten. Nur drei kehrten wieder in ihre Heimat zurück, der Zweitjüngste als Invalide, der Zweitälteste fiel bei Stalingrad. Emil, der Jüngste, musste den Hof übernehmen, obwohl er nicht Bauer werden wollte. Die Kriegserlebnisse und die „tausend Tage hinter Stacheldraht“ hat der Vater von Manfred Kern sein ganzes Leben wie eine Bürde herumgetragen, ohne darüber zu sprechen, wie viele Männer seiner Generation.

1950 heiratete Emil Kern seine „Sandkastenliebe“ Lisbeth und bekam mit ihr fünf Kinder. Manfred Kern war der dritte Sohn. Die konfliktbeladenen Beziehungen in der Familie belasteten das Verhältnis zum Sohn. In seinem Buch beschreibt er sich selbst als schwieriges Kind, das sich nicht zähmen ließ. Ein Spielzeug hielt bei ihm nie lange. Er fuhr oder schmiss es gegen die Wand, zerlegte es oder ließ es vom Tisch in den Abgrund fahren. „Ich war der Zerstörer und Tunichtgut.“ Auf der Muswiese kaufte der Vater eine Kinderpeitsche, die der kleine Manfred als Einziger zu spüren bekam. Nicht umsonst saß er dem Vater am Esstisch gegenüber. Einmal eskalierte die Situation. Der Bub wollte das Brennnesselgemüse und das fette Fleisch auf dem Teller nicht essen. Der Vater zerrte ihn an den Haaren zu Boden und bearbeitete ihn mit Fußtritten. Anschließend steckte er das Kind in den dunklen Keller und band ihn mit dem Kälberstrick an das Wasserrohr. Auch die Oma schlug den „bease Bua“ windelweich: „Ich werr dirr dein Deifl scho ausdreiwe“. Manfred Kern hat sich mit der Vergangenheit ausgesöhnt. Die Gespräche mit seiner Mutter (88) in Wettringen und das Schreiben haben ihm geholfen manches zu verstehen.

Als Anerkennung für sein kulturgeschichtliches Engagement erhält Manfred Kern Ende Oktober den Gottlob-Haag-Ehrenring. Die Auszeichnung erinnert an den 2008 verstorbenen Hohenloher Lyriker, ein kritischer Beobachter des Zeitgeschehens und Mahner zur Bewahrung der Umwelt. Nach Heide Ruopp, Impulsgeberin des Geschichts- und Kulturvereins Langenburg, dem Fotograf Roland Bauer aus Winterberg, dem Theatermacher Arno Boas aus Finsterlohr und Niederstettens Kulturamtsleiter Norbert Bach wird erstmals ein Autor aus dem Rothenburger Land ausgezeichnet. sis

Ein Kommentar zu Emotionale Nähe

  1. Walter Lassauer sagt:

    Gratulation von deinem „Kollegen“, lieber Manfred!
    Das Gremium hat eine sehr gute Auswahl getroffen! Wenn einer diesen Ehrenring verdient, dann der Wettringer Poet und Literat Manfred Kern.
    Er ordnet sich nicht dem herrschenden Zeitgeist unter und geht beharrlich seinen – sicher nicht immer einfachen – Weg. Chapeau!
    Alles Gute weiterhin und viel Erfolg
    … wünscht Dir dein „Stall – Kollege“

    Walter Lassauer
    Eiselfing bei Wasserburg am Inn

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