Schmerzhafte Liebe
Die Leiden des jungen Werther im städtischen Musiksaal
ROTHENBURG – Wie bringt man einen Briefroman auf die Bühne? Noch dazu einen Klassiker, schweres Schulpensum, Pflichtlektüre des großen Dichters und Denkers Johann Wolfgang von Goethe! Alles weit weg von der Realität heutiger jugendlicher Pubertisten.
Das Landestheater Dinkelsbühl hat sich im 60. Jahr seines Bühnenbestehens dieser Herausforderung gestellt und sie grandios gemeistert. Das Rezept: Man nehme drei musikbegabte und stimmgewaltige Protagonisten, gewande sie entsprechend ihrer Rolle, garniere das Ganze mit einer Schaukel, Tarnnetzen und herbstlichen Blättern. Dann packe man Musikinstrumente dazu: Flügel, Saxofon, Spieluhr und Gitarren nebst Verstärker. Diese sollte man unbedingt vielseitig nutzen. So darf der Flügel immer wieder selbst zur Bühne werden, auf der man sich bewegt, aus der man auftaucht. Nicht zu vergessen ist eine Pistole für den tragischen Höhepunkt.
Der rote Faden ist eine altbekannte Melodie – in trauter Eintracht summen Albert und Lotte gedankenverloren im Dunkeln „Der Mond ist aufgegangen“. Die beiden sind einander versprochen und herzlich zugetan. Werther betritt die Bühne, unkonventionell und ungestüm, der Stürmer und Dränger von heute, in gelben, zerrissenen Jeans, gelbem T-Shirt, blauem Hemd, Sportschuhen.
Er genießt das süße Gefühl der Freiheit, leistet sich grundsätzliche Kritik an der Gesellschaft und deren Wohlstand, fordert die Menschen dazu auf, das Gute zu genießen, was Gott ihnen täglich bereitet, anstatt die Lebenszeit sinnlos mit Arbeit zu verbringen. Und er stellt mit Goethes Worten die immerwährende Frage: „Was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe?“
Die Antwort folgt prompt: „Was eine Zauberlaterne ist ohne Licht! Kaum bringst du das Lämpchen hinein, so scheinen dir die buntesten Bilder an deine weiße Wand!“. Ja, sie nähern einander an, sie tauschen leise Zärtlichkeiten aus. Lotte (Patricia Foik), die unschuldige Kindfrau, die sich anstelle ihrer verstorbenen Mutter liebevoll um ihre acht jüngeren Geschwister kümmert, tanzt sich barfüßig und in ein weißes Kleidchen gehüllt in Werthers (Julian Niedermeier) Herz.
In freundschaftlichem Respekt begegnen sich Albert (Mike Kühne) und Werther, diskutieren über Sitte und Anstand, Leidenschaft und Wahnsinn, Trunkenheit und Selbstmord. Während Werther den Freitod für legitim hält, verurteilt Albert diesen grundsätzlich, hält ihn für eine Schwäche. Beide reden aneinander vorbei, wollen und können sich bald nicht mehr verstehen.
Immer größer wird Werthers innere Unruhe, er verabschiedet sich von Lotte und Albert, schreibt beiden unzählige Briefe, in denen er von einer neuen Liebe berichtet, legt seine Gefühlswelt zu Füßen. Doch es ist Herbst geworden in Werthers Herz, er hegt Selbstmordgedanken, trinkt, leidet. Lotte lässt ihn nicht los. Ein letztes Mal versucht er, sie für sich zu gewinnen, doch nach einer kurzen, leidenschaftlichen Szene stößt sie ihn von sich, reicht ihm die Pistole.
Werther sieht nur einen Ausweg, erschießt sich in der Gewissheit, dass Lotte ihn liebt: „Lotte, du bist mein auf ewig“. Bestürzung, Trauer, Entsetzen, Albert, klassisch im schwarzen Anzug, schafft es nicht, Werther die letzte Ehre zu erweisen. Ein christliches Begräbnis ist für Selbstmörder ohnehin nicht vorgesehen. Briefroman und Bühnenfassung finden sich im Goetheschen Original: „So trugen Handwerker ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet“. Im Dunkeln bleibt das Publikum zurück. -sw-
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