Zwischen Exerzitien und Elvis

Die Mädchenrealschule konnte selbst zaudernde Schülerinnen für sich gewinnen

SCHILLINGSFÜRST – Manche Menschen müssen einfach zu ihrem Glück gezwungen werden. Während Sylvia Kremer sofort Feuer und Flamme für die Mädchenrealschule Schillingsfürst war, hatte ihre jüngere Schwester Sandy einen eher holprigen Start in ihre „Instituts“-Laufbahn. Doch am Ende bestätigte sich Sylvias Überzeugung, dass die Mädchenrealschule auch ihrer Schwester guttun würde. Als für ihre Tochter Chiara die Wahl einer weiterführenden Schule anstand, gab es für Sylvia wieder keine Zweifel: Auch sie wird nach Schillingsfürst gehen.

Geheimnisse lüften, Streiche spielen, Abenteuer erleben, Partys um Mitternacht feiern: Viele Mädchen träumen davon, wie Hanni und Nanni zu sein. Auch Sylvia und ihre bes-te Freundin Evi waren riesige Fans der Bücher über die umtriebigen Internatszwillinge. Sosehr, dass sie sich in den Kopf setzten, ebenfalls auf ein Internat zu gehen. Die nächste Gelegenheit für die beiden Rothenburgerinnen war Anfang der 80er Jahre die Mädchenrealschule Schillingsfürst.

Erlebten die Mädchenrealschule im Wandel der Zeit: Sylvia, Chiara und Sandy.Foto:Scheuenstuhl

Erlebten die Mädchenrealschule im Wandel der Zeit: Sylvia, Chiara und Sandy. Foto:Scheuenstuhl

Damals war der Wechsel auf eine Realschule erst nach der sechsten Klasse möglich. Dank Sylvias gutem Notendurchschnitt konnte das Vorhaben eigentlich nicht scheitern. Doch als sie mit ihrer Mutter die Schule anschauen wollte, nahm das Schicksal seinen Lauf. Ausgerechnet zur Mittagszeit kamen sie im „Institut“ an und was den Internatsschülerinnen als Essen vorgesetzt wurde, gefiel ihrer italienischen Mama überhaupt nicht: Nudeln mit Ketchup. „Da bleibst du nicht über Nacht“, fällte sie ihr kulinarisches Urteil.

Aber Glück im Unglück: Sylvia durfte zusammen mit Evi zumindest als externe Schülerin die Mädchenrealschule besuchen. Die heute 47-Jährige hat ihre freiwillige Entscheidung auf das „Institut“ zu gehen, nie bereut. Im Gegenteil: Sie hat sich dort „gut aufgehoben“ gefühlt. „Den Lehrern war es sehr wichtig, dass wir einen guten Abschluss machen“, erinnert sie sich. Dennoch lieferte das besondere Umfeld, in dem sie unterrichtet wurde, auch reichlich Stoff für unterhaltsame Anekdoten über die damalige Zeit.

Als Sylvia 1982 ans „Institut“ kam, waren noch die katholischen Schulschwestern für die Ausbildung der jungen Damen verantwortlich. „Wir haben aber nie zu spüren bekommen, dass wir evangelisch sind“, betont sie. Den moralischen und erziehe- rischen Ansprüchen mussten aber auch sie genügen, wie Sylvia anhand einer vermeintlich harmlosen Lektüre am eigenen Leib erfuhr. Einmal hatte sich Sylvia schon vor Unterrichtsbeginn ins Klassenzimmer zurückgezogen, um in Ruhe eine Mädchenzeitschrift zu lesen. Im Augenwinkel sah sie plötzlich etwas Schwarzes neben sich und die Zeitschrift wurde ihr aus den Händen gerissen. In der Pause hallte dann die Durchsage durchs Gebäude: „Sylvia Feick (so ihr Mädchenname, Anmerkung der Redaktion), bitte ins Direktorat kommen!“ Dort erwartete sie die Schulleiterin, demonstrativ am Waschbecken stehend und sich die Hände mit einer Wurzelbürste schrubben. „Wegen des Schmutzes den du liest, musste ich mir jetzt gründlich die Hände waschen“, eröffnete sie ihre Standpauke. Sylvia kam gerade noch so an einem Verweis vorbei. Die Zeitschrift hat sie nicht mehr zurückbekommen.

Das Leben an der Mädchenrealschule stand alles andere als unter der harten Knute einer erzkonservativen Erziehung. „Bei einigen Schwestern hat man wirklich gemerkt, dass sie Spaß am Leben und ihrer Aufgabe haben“, erzählt Sylvia. So ließ etwa Schwester Gerwalda ihrer Freude am Tanzen im Sportunterricht freien Lauf. Und Schwester Hildegard war vielen Mädchen nicht nur allein wegen ihrer Schwärmerei für Elvis sympathisch. „Jedes Mal, wenn sie das Klassenzimmer betreten hat, ist die Sonne aufgegangen“, erinnert sich Sylvia. Sie habe ihnen die leidliche Stenographie wirklich versüßt. Respekt gegenüber den Schwestern wurde aber allzeit eingefordert – im Leben, wie im Tode. So nahmen die Schülerinnen eines Tages Weihrauchgeruch im Schulgebäude war. Als sie aus dem Keller, wo sie ihre Hausschuhe anziehen mussten, in die Aula kamen, standen sie vollkommen unvermittelt vor einem offenen Sarg, in dem eine Schwester aufgebahrt war, die in der Nacht verstorben war. Als letztes Zeichen der Ehrerbietung mussten alle Schülerinnen einmal um den Sarg herumgehen, bevor sie in die Klassenzimmer durften.

Zeugnis einer Ära: Sylvia Kremer auf der Abschluss-Fahrt nach London in den 80ern.Foto: privat

Zeugnis einer Ära: Sylvia Kremer auf der Abschluss-Fahrt nach London in den 80ern. Foto: privat

Die Sorge der Schwestern um ihre Schützlinge ging teilweise über das Schulgebäude hinaus. Als eines Tages Sylvia und ihre Freundin Evi keine geschlagenen zwei Stunden auf den Bus nach Rothenburg warten wollten, entschieden sie sich zu trampen. Bei der dritten Anhalter-Tour wurden sie von Luise Kreuzer entdeckt. Die Lehrerin nahm sie darauf hin mit und redete ihnen ins Gewissen. Sie bot ihnen an, sie immer am Montag mit nach Rothenburg zu nehmen wenn sie sowieso dorthin zum Einkaufen fährt. „An solchen Situationen haben wir gemerkt, dass wir Schülerinnen den Lehrern nicht egal sind“, sagt Sylvia. Aufgrund dieser vor allem positiven Erfahrungen war ihr von Anfang an klar: „Dies ist die richtige Schule für meine Schwester.“ Doch die zehn Jahre jüngere Sandy war davon alles andere als begeistert. Alle Freunde waren in Rothenburg und auf der Schule in Schillingsfürst gab es außerdem keine Jungs: „Ich wollte dort partout nicht hin“, erzählt sie. Wäre es nach ihr gegangen, wäre sie einfach ihrem Bruder auf die Rothenburger Realschule gefolgt.

„Mir war eigentlich alles ein wenig egal“, beschreibt Sandy ihr erstes Jahr in Schillingsfürst. Ihre rebellische Haltung brachte sie damals oft ins Direktorat zu Schulleiter Hans Kralik. „Er war trotz allem immer sehr geduldig mit mir, sagt sie. Doch die wirkliche Wende kam erst als ihr Freund mit ihr Schluss machte. Dass in dieser Zeit ihre Klassenkameradinnen für sie da waren, hat sie wohl letztlich mit der Schule versöhnt.

Bis zu ihrem Abschluss war die Musik ein ständiger Begleiter in ihrem Schulleben. Neben Auftritten in zahlreichen Schulspielen brillierte sie auch im Chor. Mit einem Solo des Stücks „Oh happy Day“ zog sie sogar das Publikum eines Chorfestivals in Neustadt/Aisch in ihren Bann. „Das Singen war mir wirklich wichtig“, bekräftigt sie. Mit den übrigen Fächern lief es hingegen eher durchwachsen. Sandy musste öfters mal – teils freiwillig, teils unfreiwillig – eine Klasse wiederholen. Der Schulleiter erwies sich hier als Retter in der Not. Hans Kralik fand ein Schlupfloch in der Schulbürokratie, so dass Sandy noch eine letzte Chance bekam, die 10. Klasse zu wiederholen und ihren Abschluss zu machen. „Ich werde ihm dafür mein ganzes Leben lang dankbar sein“, schwört die heute 37-Jährige. Dementsprechend traurig war sie, dass er ausgerechnet zu ihrem Abschlussjahr die Mädchenrealschule verließ. „Wenn du für mich singst, werde ich zu deiner Abschlussfeier kommen“, versprach er Sandy beim Abschied – und er hielt sein Wort.

Die 14-jährige Chiara kennt viele dieser Geschichten und „Schwärme­reien“ von der Schulzeit ihrer Mama und Tante. Dennoch war auch sie nicht sehr glücklich über die Entscheidung ihrer Mutter, dass sie die schulische Familientradition auf der Mädchenrealschule weiterführen sollte. Ihr Wunsch war es, wie ihre Schwester Tamika, aufs Gymnasium nach Ansbach zu gehen. „Mein Kind ist praktisch veranlagt“, lautete hingegen Sylvias Argument für das „Ins-titut“. Bei Chiaras Mitschülern aus der Grundschule hatte der „Zickenbunker“ – so ihr Spitzname für die Mädchenrealschule – allerdings keinen guten Stand.

Weil jedoch eine ihrer Freundinnen ebenfalls nach Schillingsfürst wechselte, fügte sich die mittlerweile angehende Neuntklässlerin in ihr Schicksal und hat sich seitdem dort sehr gut eingewöhnt. Gerade in Zeiten, in denen die Schüler schulische oder außerschulische Probleme haben, merkt man, dass die Lehrer aufgrund der überschaubaren Größe der Schule, näher an den Jugendlichen dran sind und ihnen so besser zur Seite stehen können.

Dass es damals keine Jungen auf der Schule gab, sei gar nicht so schlecht gewesen, meint Sylvia. Dadurch habe es „null Ablenkung“, Liebeskummer oder Eifersüchteleien gegeben. Chiara kennt als einzige der drei Frauen beides: Die traditionsreiche reine Mädchenschule und die Edith-Stein-Realschule für beide Geschlechter. „Man merkt schon, dass nun auch Jungs da sind“, findet die 14-Jährige. Für Mutter und Tante sei es zwar anfangs eine „komische Vorstellung“ gewesen, doch letztlich empfinden sie es als eine „super Idee“. „Der Geist der Schule ist für Jungen genauso wertvoll, wie für Mädchen“, sind sie überzeugt. mes

Seit dem vergangenen Schuljahr dürfen auch Jungen die einstige Mädchenrealschule besuchen. Einer dieser Pioniere der nun dafür in Edith-Stein-Realschule umbenannten Bildungseinrichtung, erzählt in einem folgenden Artikel, warum er unbedingt auf das „Institut“ wollte.

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