Der Junge mit der weißen Fahne

Kurt Melzner, 82, war dabei als die Stadt an die Amerikaner übergeben wurde

ROTHENBURG – „Eigentlich haben sie recht, es gibt keinen Grund Rothenburg zu verteidigen!“ – „Müssen wir denn diese schöne historische Stadt zerstören?“ Wenn etwas treffend ist, dann sind es diese beiden Aussagen: die eine vom deutschen Standortkommandanten, die andere vom US-General. Über die „Rettung der Stadt“ Mitte April 1945 gibt es viele Geschichten, aber nur noch einen lebenden Augenzeugen: Kurt Melzner, 82, erinnert sich an die Übergabeprozedur, die er als direkt Beteiligter mit erlebte.

„Zwei US-Parlamentäre, die Rothenburger Ernst Geissendörfer und Rettinger (der den Opel P4 Kastenwagen mit Sanitätszeichen fuhr), sowie Amtmann Wirsching stiegen ins Auto und ich saß vorne auf dem rechten Kotflügel mit einer weißen Fahne am Besenstiel in der Hand!“ So erinnert sich der 82-jährige rüstige Kurt Melzner an den 17. April 1945. Damals war er 14 Jahre und hatte zuvor mit anderen Rothenburgern im Jungvolk an die großen Verheißungen des Dritten Reiches geglaubt. Und nun wollte es das Schicksal, dass er – von Polizeileutnant Drossel als Fahnenträger angeheuert – noch in diese bemerkenswerte Rolle schlüpfen sollte und zwar als Augenzeuge bei Verhandlungen, die über das endgültige Schicksal der schon halb zerstörten Stadt entschieden.

„Ich wollte Förster werden“, erzählt er, aber nach dem Krieg wurde Kurt Melzner dann Kellner und ging ins Ausland. Als Restaurantdirektor und später Fachbereichsleiter Gastronomie (für die Gastronomieschule in Rothenburg hat er sich nachhaltig engagiert) werden ihn viele noch kennen. Dass seine Jugend von nationalsozialistischem Gedankengut geprägt war ist deckungsgleich mit vielen anderen Rothenburgern. Die meisten berichten von ihrer damaligen Begeisterung für Jungvolk und Hitlerjugend mit Lagerleben und Abenteuer. Die Läuterung kam erst gegen Kriegsende, als Deutschland mehr und mehr die Früchte des Wahnsinnskrieges Hitlers zu spüren bekam. Die Stadtübergabe an die Amerikaner spielte sich nur zweieinhalb Wochen nach der Teilzerstörung Rothenburgs durch amerikanische Bomber ab. Somit ging es faktisch auch gar nicht um „die“ Rettung der Stadt, sondern darum, die Zerstörung der restlichen Stadt zu verhindern.

Erinnert sich noch lebhaft an viele Details: Kurt Melzner beim FA-Interview.       Foto: diba

Erinnert sich noch lebhaft an viele Details: Kurt Melzner beim FA-Interview. Foto: diba

An den Vorgängen zur Übergabe der Stadt vor 68 Jahren waren an den unterschiedlichsten Stellen verschiedene Personen und zwar auf deutscher wie auf amerikanischer Seite beteiligt; sehr schnell hätte es auch anders ausgehen können und Rothenburg das Schicksal von Crailsheim erleiden, das durch Bomben und Artillerie dem Erdboden gleichgemacht wurde. Zum Jahrestag 2013 berichteten wir bereits über das Kriegsende, heute geht es darum nochmal die seltene Gelegenheit zu einem Augenzeugenbericht zu nutzen.

Die Beteiligten Ernst Geissendörfer, Kurt Melzner und Polizeimeister Hans Hörber hatten gemeinsam ein Erinnerungsprotokoll hinterlegt und 1970 notariell beglaubigen lassen. Melzner war 1985 sogar Gast in der BR-Fernsehsendung Kulturclub (am 29.3.1985 ausgestrahlt) in der es um Bürger ging, die durch „Vernunft in letzter Minute” sinnlose Verteidigungskämpfe mit verhindert haben. Rothenburg spielt eine wichtige Rolle im Beitrag, wozu man den schwer erkrankten Ernst Geissendörfer (1908 bis 1993) extra in der Klinik befragte. Dabei erzählte er von seiner persönlichen Bekanntschaft zur Familie der McCloys und von seinem Gespräch mit dem deutschen Stadtkommandanten von Rosenau, denn er nach eigenen Aussagen ebenso wie dann den amerikanischen Unterhändler mit davon überzeugen konnte, dass man die mittelalterliche Stadt nicht nochmals beschießen muss.

Aus Melzners Bericht wird deutlich, dass Stadtamtmann Hans Wirsching „immer wieder auftauchte, sich erkundigte wie die Lage ist und mitwirkte“. Die bedeutende Rolle des verdienten Rothenburgers hat Karl Thürauf kürzlich in einem Vortrag des Vereins Alt-Rothenburg ausführlich gewürdigt und sie wird durch den erweiterten Kontext keinesfalls geschmälert. In der Beilage „Die Linde“ wird  darauf differenziert eingegangen. Zahlreiche FA-Artikel untermauern das komplexe Geschehen, das sich wie ein Mosaik zu einem Gesamtbild mit kleineren Ungereimtheiten verdichtet.

Melzner berichtet von der Fahrt mit dem Sanitätswagen nach Gebsattel zu Oberstleutnant Rosenau und meint: „Das war ein sehr honoriger Herr, der zuerst im Gasthof zur Sonne in der Hafengasse sein Quartier hatte“. Er erklärte sich für nicht zuständig und man sei dann ins Wildbad gefahren, wo der Abschnittskommandeur sein sollte. Am Wildbad habe man plötzlich Schüsse von der Eselsbrücke her gehört und sei zum Hauptquartier in die besser befestigte Siechenmühle verwiesen worden. Melzner: „Die beiden Parlamentäre, nach meiner Meinung Offiziere, sowie Ernst Geissendörfer und Stadtamtmann Wirsching gingen rein und kamen nach kurzer Zeit wieder raus. Mir wurde gesagt man habe höhere deutsche Offiziere getroffen u.a. einen Oberst, der sich weigerte die Stadt zu übergeben.“

Ernst Geissendörfer hatte sich erinnert, er sei am 17. April früh um 7.15 Uhr von Schutzmann Hans Hörber geweckt worden, weil im Rathaus ein US-Parlamentär sei und man einen Dolmetscher brauche. Auch Georg Pirner vom Hotel „Eisenhut“ war dabei und sagte im Mai 1945 schriftlich aus: Der Parlamentär sei von einem Artillerie-Major (mit Augenbinde) geschickt worden und verlange Bescheid bis 9 Uhr, sonst werde die Stadt beschossen. Pirner betont hier seine Rolle als Dolmetscher, später habe er dann durch Ernst Geissendörfer Unterstützung bekommen. Dieser sei danach im Auto von Garagenbesitzer Rettinger mit anderen nach Gebsattel gefahren. Die Dolmetscherrolle sei fortan von Geissendörfer alleine übernommen worden und bereits kurz nach 8 Uhr hätten US-Soldaten das Klingentor erreicht.

Kurt Melzner (vorne im Bild) mit den Jungvolk-Kameraden beim zünftigen Lagerleben.

Kurt Melzner (vorne im Bild) mit den Jungvolk-Kameraden beim zünftigen Lagerleben.

„Am Gasthof Klingentor hörten wir Schüsse von der Klinge herauf“ erinnert sich Kurt Melzner, der Richtung Heckenacker auch die ersten US-Panzer sah. Später hieß es, der Kreisleiter Höllfritsch bzw. seine Begleitung hätte noch geschossen. Die Unterhändler und Amtmann Wirsching seien dann am Vereinshaus für zehn bis zwanzig Minuten abgestiegen. Man habe dort auch nach amerikanischen Verwundeten gesucht. Melzner: „Die waren beruhigt als sie diese genauso anständig versorgt wie die Deutschen vorfanden“.

Nach den Gesprächen im Vereinshaus habe Ernst Geissendörfer dann gesagt „Gottlob, jetzt passiert nix mehr!“. Und von Hans Wirsching hörte Melzner den Satz: „Du warst ein tapferer Bua, du gehst jetzt heim zu deiner Mutter!“ So endete für Kurt Melzner die bis heute in tiefer Erinnerung gebliebene Episode, die er als 14-jähriger Junge erlebt hat.

Zu dieser einmaligen Rolle sei er nur durch Zufall gekommen, weil er der Nachbarsbub zur Polizeiwache gewesen war und die älteren Kameraden alle schon bei der Flak oder im Volkssturm gedient hatten. Melzners Erinnerungen, die es auch als Filmsequenz gibt, sind ein hilfreicher Mosaikstein zu einem immer wieder kontrovers diskutierten Thema. Den BR-Beitrag von 1985 zeichnen die persönlichen Aussagen Geissendörfers und Melzners, vor allem aber des neunzigjährigen ehemaligen US-Hochkommissars General McCloy aus. Am wenigsten überzeugt dabei der Moderator der Sendung.

Bei seinem Rothenburg-Besuch im Juli 1952 hat General John McCloy bezeugt, dass sein Eintreten für die ihm bekannte historische Stadt bei General Devers, der Rothenburg beschießen wollte, das Blatt wendete. Verschiedene Beiträge zeigen, dass es unterschiedliche Nuancen gibt, aber die wesentlichen Fakten stehen. So ist z.B. Dr. Karl von Seeger zu nennen, der ab Januar 1945 Standortoffizier war, während Oberstleutnant Rosenau als Standortältester bezeichnet wird. Bereits im Juni 1946 gab Seeger eine umfangreiche Erklärung ab und behauptet, er habe bewusst eine Versprengtenkompanie nicht mehr zur Stadtverteidigung eingesetzt und sogar selbst die Übergabe herbeiführen wollen.

Eine wichtige Rolle spielt auch der deutsche Major Friedrich W. Thömmes (seine Aussage von 1949 liegt vor), der erklärte, einen US-Unterhändler trotz des Verbots durch den SS-General Simon empfangen und die Waffenruhe garantiert zu haben, ebenso die Übergabe zum 17. April nach Rücksprache mit seiner Dienststelle. Thömmes war Major der 79. Volksgrenadier-Division. Die „kulturellen Werte der Stadt und 400 Verwundete lagen mir am Herzen“, sagte er. Seeger indes betont, er habe Thömmes erst in dieser Richtung stark beeinflusst.

Bis Kriegsende mussten 529 Rothenburger auf dem Felde und beim Luftangriff ihr Leben lassen, dazu kamen viele bis heute vermisste Soldaten. Am 17. April 1945 wurde die US-Besatzung zugleich zu Befreiern von der Hitlerdiktatur. Man kann beklagen, dass die Amerikaner ohne militärische Notwendigkeit am 31. März die Altstadt bombardiert haben und fast zur Hälfte zerstörten – aber man muss dankbar sein, dass Amerikaner und besonnene Deutsche für die Erhaltung des größeren historischen Teils sorgten. Rothenburg hat mehrere Retter, was aber zählt ist das bis heute sichtbare Ergebnis. diba

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