Müll oder wertvoller Rohstoff?

Weltladen nimmt Taschen aus Flüchtlingsschlauchboten zeitweise ins Sortiment

ROTHENBURG – Taschen gibt es wie Sand am Meer. Und so manche davon hat genau dort ihren Ursprung: Das Berliner Sozialunternehmen „mimycri“ designt und fertigt hochwertige Taschen aus kaputten Flüchtlingsschlauchbooten, die am Strand der griechischen Inseln Lesbos und Chios aufgesammelt werden. Im Weltladen Rothenburg kann man sich über die Qualität der Taschen und den sozialen Gedanken dahinter informieren – und die guten Stücke natürlich auch erwerben.

Der Weltladen steht für hochwertige Waren mit sozialem Hintergrund. Foto: Scheuenstuhl

Es ist allerdings erst einmal eine Testphase, um zu sehen, ob diese Produkte auch in Rothenburg ankommen. Beim jüngsten „Träumen&Machen“-Festival, an dem der Weltladen ebenfalls beteiligt war, waren die Reaktionen überwiegend positiv. Der eine oder andere Asylsuchende äußerte jedoch ein ungutes Gefühl beim Anblick der Taschen, weil es ihn an eine lebensbedrohliche Situation erinnerte, sagt Bernd Deutschmann, Mitglied im Trägerverein des Rothenburger Weltladens.

Und auch die beiden engagierten Gründerinnen von „mimycri“, Nora Azzaoui und Vera Günther, werden oft gefragt, ob es moralisch vertretbar sei, sich die ausgedienten Schlauchboote als Taschen umzuhängen. Ihre Antwort: Nicht ihre Arbeit sei zynisch, sondern das, was im Mittelmeer passiere. Mit ihren Produkten wollen sie deshalb auch Denkanstöße geben – und Arbeitsplätze. So beschäftigen sie sowohl Menschen mit und ohne Fluchterfahrung, die bislang Schwierigkeiten oder nicht die Möglichkeit bekamen, ihre Talente zu zeigen.
Das Team des Weltladens ist über einen Bericht in dem Misereor-Magazin „frings“ auf den 2017 gegründeten Verein aufmerksam geworden. Gleich mehrere Aspekte faszinierten sie an dem noch jungen, aber schon ausgezeichneten Start-up. Da wäre zum einen der Auslöser für dessen  Entstehung: Nora Azzaoui und Vera Günther engagierten sich 2015 vor Ort in Griechenland für die Geflüchteten, indem sie Essen und Kleidung an sie verteilten.
„Boat people“ – allerdings aus Vietnam – waren vor mehr als 40 Jahren auch für viele Mitglieder des Trägervereins Auslöser, sich näher und tatkräftiger mit Flucht, Vertreibung und allgemein der Solidarität zwischen Erster und Dritter Welt – was mittlerweile überholte Begriffe sind – zu beschäftigen.
Hinzu kommt, dass „mimycri“ Geflüchteten die Möglichkeit gibt, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Und zwar nicht wie sonst üblich mit einfachen Aushilfstätigkeiten, sondern mit dem, was sie in ihrem Heimatland auch gelernt haben. So fertigen unter anderem ein Schneider aus Pakistan und aus Syrien bei „mimycri“ Rucksäcke und Taschen in verschiedenen Größen und für unterschiedliche Zwecke. Sie sind aber auch in den Designprozess eingebunden.
Müll oder Ressourcen? 
Ein dritter wichtiger Punkt ist der nachhaltige Umgang mit Ressourcen. „Up-cycling“ ist derzeit – erfreulicherweise – in aller Munde. Und nichts anderes macht „mimycri“. Die einstigen Schlauchboote können mehr sein als nur Müll, der an den Stränden sich selbst überlassen wird, so damals wohl die Überzeugung der beiden Gründerinnen. Dank des strapazierfähigen und wasserdichten Materials lassen sie sich mit Kreativität und handwerklichem Geschick in hochwertige Produkte verwandeln. Der Verein arbeitet auf Lesbos und Chios mit Freiwilligenorganisationen zusammen, die die kaputten Schlauchboote aufsammeln und regelmäßig nach Berlin zur Weiterverarbeitung schicken.
Die Engagierten in Berlin und Rothenburg eint auch ihre Überzeugung, auf Augenhöhe und im Sinne einer universellen Gerechtigkeit sich für andere einzusetzen. „Wir wollen zu einer Welt beitragen, in der wir uns gegenseitig unterstützen, einfach weil wir es können – und weil es Spaß macht“, sagen etwa Nora Azzaoui und Vera Günther.

Das engagierte Team des Sozialunternehmens „mimycri“ aus Berlin. Foto: Judith Affolter

Produkte mit Siegel für fairen Handel gibt es mittlerweile in vielen Supermärkten und sogar in Discountern. Der Weltladen bezeichnet sich bewusst als „anders als andere“, erklärt Hedwig Plodeck, Zweite Vorsitzende des Trägervereins. Denn bei ihm steht grundsätzlich nicht im Vordergrund, Gewinn zu  erzielen. Sie haben auch den Anspruch und den selbst auferlegten Auftrag, aufzuklären. Die testweise  Aufnahme der Taschen aus den Flüchtlingsschlauchbooten in den Warenbestand sind dafür ein Paradebeispiel. „Jede Tasche hat ihre eigene  traurige Geschichte, die man hätte vermeiden können“, sagt Erika Holzmann vom Weltladen. Dies möchte man zum Thema machen.

Die Taschen und Rucksäcke aus ausgedienten Schlauchbooten verbleiben noch eine gewisse Zeit im Rothenburger Weltladen in der Klostergasse 20. Wenn die Verantwortlichen  der Überzeugung sind, dass sie keinen Anklang bei den Kunden finden, werden sie aus dem Sortiment gestrichen. Es wäre sehr schade – wegen des Engagements der Berliner Gründerinnen und ihres internationalen Teams sowie der verpassten Chance, den Blickwinkel zu verändern. mes

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